Junge oder Mädchen? Kein Grund zum Feiern

Was früher die Taufe war, ist heute die Gender Reveal Party, auf Deutsch „Geschlecht-Verraten-Party“. Das Baby wird in die Familie und in den großen Freundeskreis eingeführt. Und zwar dann, wenn in der Ultraschalluntersuchung das Geschlecht des Kindes festgestellt wurde, also noch während der Schwangerschaft. Die Frauenärztin oder der Frauenarzt wird dann schon vor der Untersuchung gebeten, das Resultat, ob es ein Mädchen oder ein Junge ist, nicht direkt mitzuteilen, sondern es auf ein Blatt Papier zu schreiben und in einen Briefumschlag zu stecken – wahlweise auch in einen noch nicht aufgeblasenen Luftballon, in eine Konfettikanone oder eine Rauchbombe. Oder die Mitteilung wird an Bekannte weitergegeben, die dann die Bastelei übernehmen, ohne vorher zu verraten, was auf dem Zettel steht.

Dann werden Familie und Freunde zum Feiern eingeladen; dem Aufwand, der dabei getrieben wird, sind keine Grenzen gesetzt. Geben Sie auf YouTube „Gender Reveal Party“ ein, und Sie werden sehen, mit der Vorbereitung des Events können Feierbiester Wochen zubringen; die dazu gehörenden Shopping-Angebote lassen sich ebenfalls mit Leichtigkeit googlen. Während dieser Party – wahlweise mit Torte, Tortillas oder Bio-Gemüse-Snacks – wird der Luftballon, wahlweise auch die Konfettibombe zum Platzen gebracht oder auch einfach nur unter Abspielen von Trommelwirbeln oder passenden Charts der Briefumschlag aufgeschlitzt und das Geschlecht unter großem Hallo bekannt gegeben. In heutigen Lockdown- und Pandemie-Zeiten fällt die Party natürlich nicht aus; statt des Real-Life-Events wird zu einer virtuellen Party per Zoom oder einer anderen Meeting-Plattform eingeladen, das notwendigen Feier-Zubehör einschließlich Luftschlangen, alkoholfreiem Sekt oder Cocktail in Dosen, Chips und Tröten vorher an alle virtuellen Gäste per Post verschickt, man trifft sich vor den Bildschirmen und hat dann ebenfalls eine Menge Spaß miteinander.

Die Feier soll zeigen, dass es den Eltern egal ist, ob es ein Junge oder ein Mädchen wird, und dass das Baby an sich ein Grund ist, sich zu freuen. Und sie ist ein Anlass, wieder einmal alle zu sehen beziehungsweise vor dem Bildschirm zusammenzuholen und gerade in diesen Zeiten mal über etwas anderes zu reden als über das Virus, dessen Namen hier nicht genannt werden soll. Wie geht es der Schwangeren, ist die Übelkeit der ersten Wochen schon vorbei, spürt sie schon wie das Baby tritt und trampelt, ist die Babywiege schon geschreinert, wie war es bei eurer Schwangerschaft, vielleicht sind auch die Kinder dabei – die eigenen und die der eingeladenen Gäste.

Gegenüber der Taufe hat so eine Gender Reveal Party einen riesigen Vorteil, und zwar den, dass das Baby noch gar nicht da ist. Die Mutter ist nicht von der langen Schwangerschaft und der Geburt geschlaucht und möchte eigentlich nur ihre Ruhe haben, das Baby muss noch nicht gestillt, gewickelt und getröstet werden, wenn es nicht aufhören will zu weinen, stört also noch nicht beim Feiern, die Eltern sind noch nicht übernächtigt von dem Dauerprogramm, das ein Neugeborenes ihnen bietet.

Aber.

Aber.

Es gibt mehrere Abers. Das wichtigste ist: Aber nicht alle Schwangerschaften gehen gut aus. Selbst wenn die ersten drei Monate überstanden sind – mehr als 30% aller Schwangerschaften gehen in dieser Zeit verloren –, kann immer noch vieles schiefgehen. Es kann zu einer Fehlgeburt kommen, zu einer Frühgeburt, die Plazenta kann sich mit einer schweren Blutung vorzeitig ablösen, das Baby kann mit einer Nabelschnurumschlingung auf die Welt kommen und daran sterben, so etwas ist bis heute nicht sicher zu verhindern. Vielleicht erfährt das Paar kurz darauf, dass das Baby sehr krank ist. Je größer die Party war, umso tiefer der Absturz. Deshalb ist es eigentlich schon richtig, das Baby erst dann zu feiern, wenn es auf der Welt ist und wenn alles gut gegangen ist. „Die Geburt ist die gefährlichste Stunde im Leben eines Menschen“ betont der Präsident des Berufsverbandes der Frauenärzte, Dr. Christian Albring, seit Jahren Mantra-artig. Lieber freut man sich ein bisschen im Stillen auf das Baby und ist dann heilfroh, wenn alles gut gegangen sein sollte.

Das zweite Aber scheint einem Paar, das auf dem Weg ist Eltern zu werden, vielleicht sehr weit weg. Es hat damit zu tun, dass wir alle von Vorurteilen eingesponnen sind darüber, wie eine Junge oder ein Mädchen zu sein habe. Jungen lieben Fußball, Feuerwehr und Dinosaurier und halten was aus, Mädchen lieben Ballett, Basteln und Ponys und sind schnell beleidigt. Ja klar kann es auch anders kommen. Aber spätestens im Krabbelalter ist völlig klar, dass Kleidung für Jungen eher in dunklen, kräftigen Farben gehalten ist, für Mädchen in hellem Pastell. Dinos und Bagger ebenso wie Einhörner und Schmetterlinge sind nicht genderneutral. Damit werden schon Kleinkinder auf ihre Rollen festgelegt, und das kann sich zu einem großen Problem auswachsen. Was passiert, wenn der Junge am liebsten in rosa T-Shirts rumläuft, weil er sich darin rundum wohl und zu Hause fühlt? Wenn er seine Puppe überall hin mitnimmt, und wenn es vorn auf der Schaufel seines Sandkastenbaggers ist? Wird er dann ausgelacht und zurechtgewiesen? Was ist, wenn sich das Mädchen gerne mal auf dem Spielplatz körperlich durchsetzt, um seine Ansprüche auf Schippe und Buddelförmchen anzumelden? Dürfen Mädchen das? Wie sieht denn das aus? Und was ist, wenn sich das nicht auswächst, wenn das Mädchen mit seiner Rolle überhaupt gar nichts anfangen kann, der Junge mit sich durch und durch fremdelt? Je besser wir unseren Kindern von vornherein versichern, dass ihnen ihr biologisches Geschlecht eben keine bestimmte Rolle vorschreibt, umso leichter werden sie lernen können, sich mit sich selbst wohlzufühlen.

Es ist wahnsinnig schwer, Kinder geschlechterneutral zu erziehen. Geschlechterneutral heißt ja nicht „weder – noch“, sondern „sowohl – als auch“. Also Glitzer und Turnschuh, Ordnung und Chaos, Leistung und Party, Wissenschaft und Fantasie, Recht behalten und Nachgeben. Zuneigung, Rücksicht und Klugheit sind zum Glück weitgehend genderneutral, das ist ja wenigstens etwas. Jedes Kind ist Mädchen UND Junge, jeder Erwachsene Mann UND Frau, nur dass meistens eines davon überwiegt. Geschlechtsneutraler Umgang mit unseren Kindern fängt direkt nach der Geburt an. Es gibt dazu genug Untersuchungen, dass Erwachsene auf weibliche Babys anders reagieren als auf männliche. Das Erleben, das Selbstverständnis und das Verhalten unserer Kinder wird dadurch von Geburt an unterschiedlich konditioniert. Das muss nicht sein. Und zurück zu den Gender-Reveal-Partys. Rosa und Hellblau, Schleier oder Schwert, das ist aus einem anderen Jahrhundert. Mädchen oder Junge, was wissen Sie denn, wer Ihr Kind am Ende sein wird? Machen Sie es ihm nicht schon so früh so schwer.

Autorin: Dr. med. Susanna Kramarz

Bild-Copyright © Adi Goldstein / Unsplash

📅 Letzte Änderung am: 14. März 2023

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